In dieser 15. Ausgabe der Oikoplus-Reading-List geht’s um Citizen Science in Theorie und Praxis. Wer hier weiterliest, stößt auf 10 Prinzipien für Citizen Science Projekte und praktische Tipps, sowie theoretische Reflexion über die Bürger:innen-Wissenschaft.
Citizen Science ist einer dieser Begriffe, die neu und innovativ erscheinen, obwohl sie eigentlich ein uraltes Konzept bezeichnen. Nämlich, dass Menschen, die keine Wissenschaftler:innen sind, Forschung betreiben. Das passiert seit jeher und ständig. Und: es gibt prominente historische Beispiele. Als z.B. Wilhelm Herschel im Jahr 1781 den Planeten Uranus entdeckte, war er eigentlich als Orchesterdirektor tätig. Astronomie betrieb er in seiner Freizeit.
Wenn der Begriff Citizen Science heute verwendet wird, oder einer seiner vielen Nachbarbegriffe (community science, crowd science, crowd-sourced science, civic science, volunteer science oder volunteers monitoring), dann liegt oft ein Begriffsverständnis zugrunde, dass sich an einer umfassenden Einführung von Alan Irving aus dem Jahr 1995 orientiert. Einen aktuelleren Überblick über den Citizen Science Begriff und die Potenziale der Bürger:innen-Wissenschaft liefern Rick Bonney et.al. (2009). Noch aktueller ist die umfangreiche Einführung ,Citizen Science – Innovation in Open Science, Society and Policy’ von Susanne Hecker et.al. (2018). Darin enthalten: 10 Prinzipien der Bürger:innen-Wissenschaft.
Frage nicht, was du für die Wissenschaft tun kannst, sondern, was die Wissenschaft für dich tun kann. Oder nicht?
Mit der wachsenden Anzahl an Citizen Science Projekten und wissenschaftlichen Amateur:innen, die sich daran beteiligen, stellen sich natürlich auch wissenschaftsphilosophische und erkenntnistheoretische Fragen. Paul Feyerabend hat sich in den 1970er Jahren mit Wegen, die Wissenschaft der Gesellschaft gegenüber zu öffnen, beschäftigt. Seine Schrift “Erkenntnis für freie Menschen” ist ein lesenswerter Einstieg in Feyerabends Werk. Eine Zusammenfassung samt Kommentar findet sich hier.
Um Feyerabends Verständnis von Citizen Science geht es auch in einem Text von Sarah M. Roe. Sie argumentiert: “Feyerabend teaches us that while the current citizen science movement is primarily focused on what the citizen can do for science and what the citizen can learn from science, the movement should also focus on what science can do for the citizen and what science can learn from the citizen.”
Mobile Apps und Open Source zur Unterstützung von Citizen Science
Doch wenn Sie das hier lesen, wollen sie sich vermutlich nicht bloß theoretisch mit Citizen Science auseinandersetzen, sondern vielleicht praktisch ein Projekt umsetzen. Falls Sie dafür bestimmte wissenschaftliche Proben oder Artefakte sammeln lassen wollen, eignet sich dafür eventuell eine App. Zum Beispiel Sapelli. Sapelli ist das Ergebnis eines britischen Forschungsprojekts und zu einem großen Open Source Projekt angewachsen, dass das kollektive Sammeln wissenschaftlicher Artefakte ermöglicht. Ganz einfach am Smartphone.
Nicht nur die Software zum Sammeln wissenschaftlicher Proben ist einfacher nutzbar und vernetzter geworden. Auch die Hardware ist erschwinglicher. Ein Artikel auf conversavation.com beschreibt, wie Smartphone-Kameras inzwischen dazu genutzt werden, Insektenarten zu dokumentieren. Ebenfalls auf conversation.com beschreibt der australische Ornithologe Hugh Possingham, weshalb er sich eine Gesellschaft wünscht, in der sich möglichst viele Menschen als Amateur-Wissenschaftler:innen engagieren sollen. Sein Argument: “If citizens immerse themselves in gathering knowledge and asking questions, they gain power – and are far more likely to engage in participatory democracy.”
Zurück zur Theorie…und zur Kommunikation von Citizen Science
Etwas kritischer sieht das der schwedische Linguist und Wissenstheoretiker Dick Kasperowski, zum Beispiel in einem Interview aus dem Jahr 2016. Er stellt über Citizen Science fest: “Citizens are only invited to do certain defined tasks like classifying or collecting data. You are not involved in all stages of the research process, even though that might be an ideal or rhetoric put forward. Citizens do very seldom formulate hypotheses or theories, for instance. No one is forced to take part in citizen science, but it has been criticised as a way of getting labour for free. I wonder what Marx would have said about it.” Doch nun wird es schon wieder recht theoretisch. Sorry.
Zum Ende deshalb noch der Hinweis auf eine sehr praktische Publikation. ,Communication in Citizen Science’ von Carina Veeckman und Sarah Talboom (2019) bietet eine weniger theoertische, aber praktische Anleitung zur Entwicklung einer erfolgreichen Kommunikationsstrategie in Citizen Science Projekten. Denn Kommunikation ist der zentrale Schlüssel zu erfolgreicher Bürger:innen-Beteiligung an Forschungsvorhaben.